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Eva Weyl (Mitte) teilte an der Marienschule Xanten ihre traumatische Überlebensgeschichte. V.l: Lehrer Michael Rathmann, Direktor Michael Lemkens, Schülerin Alicia und Lehrerin Christiane Lamers.Foto: J.Kurschatke
26. Juni 2024 · Jacqueline Kurschatke · Xanten

Die Illusion von Westerbork

Zeitzeugin Eva Weyl berichtet von ihrer Zeit in dem niederländischen Durchgangslager

XANTEN. „Vor 80 Jahren stand ich auf der Todesliste“ – mit diesen Worten beginnt die Zeitzeugin Eva Weyl ihren Vortrag an der Marienschule Xanten. Zeitzeugen: Das sind die Letzten, heute noch lebenden Menschen, die die NS-Zeit hautnah miterlebt haben. Worüber manche bis ins hohe Alter nicht sprechen können, nutzt Weyl für ihre Aufklärungsarbeit. Sie erzählt ihre Geschichte regelmäßig vor Hunderten junger Menschen, um ihnen Toleranz und Empathie zu vermitteln.

„Es ist so wichtig, in dieser Zeit Mensch zu sein. Und ihr wart Mensch“, adressiert Weyl direkt an die zahlreichen Schülerinnen, die in der Mensa der Marienschule zusammengekommen sind. Damit spielt Weyl auf persönliche Briefe an, die die jungen Frauen ihr mit Genesungswünschen zukommen ließen. Denn eigentlich sollte der Vortrag von Eva Weyl schon im Dezember stattfinden. Durch die Ereignisse in Israel im vergangenen Oktober und einer kurzen Erkrankung musste die Zeitzeugin diesen Termin aber verschieben. In den Briefen stellten die Mädchen persönliche Fragen an Weyl. Dabei interessierten sie sich vor allem für Weyls Traumata.

Drei Jahre in Westerbork

Und es ist so: Lange Zeit konnte Eva Weyl nicht über ihr erlebtes Sprechen. Sie und ihre Eltern überlebten die letzten drei Kriegsjahre ab Januar 1942 glimpflich im Durchgangslager Westerbork. Weyl war da erst sechs Jahre alt. Einst als Flüchtlingslager gestartet, beherbergte Westerbork Tausende Juden aus den Niederlanden und der deutschen Grenzregion. So habe es Schulen für die Kinder gegeben, ein Krankenhaus, drei kleine Mahlzeiten am Tag und Arbeit in administrativen Positionen für jüdische Männer. Als Lehrkraft oder in der Verwaltung des Lagers.

Eine große Illusion, wie Weyl berichtet: „Es gab kein anderes Lager wie die betrügerische Welt von Westerbork. Aber es hat auch mein Leben gerettet.“ Betrügerisch, denn Westerbork wurde nicht umsonst als Durchgangslager bezeichnet. So wurde es zwar gestaltet wie ein „normales kleines Dorf“ mit erträglichen Lebensumständen, ab Juli 1942 begannen aber die Deportationen in den Osten. „Auschwitz musste gefüttert werden“, erklärt Weyl. „Alle zwei Tage mussten Juden, die eine Position in der Verwaltung hatten, willkürlich Namen aus einer Kartei ziehen. Die Gezogenen wurden am nächsten Morgen abtransportiert.“ Auch eine Schulfreundin von ihr, Evas „Herzensfreundin“, kam eines Morgens nicht mehr zum Unterricht. „Ich habe erst durch die anderen in der Klasse erfahren, dass sie und ihre Eltern mit dem Zug weggefahren sind. Als Kind wurde uns nichts von den Gerüchten erzählt. Meine Mutter war alles für mich und wenn sie sagte, dass alles gut war, glaubte ich es. Ich habe mich für meine Freundin gefreut, denn ich wollte auch weg, zurück nach Hause. Erst später lernte ich, wo diese Züge wirklich hingefahren sind.“ Ihre Freundin sah Eva nie wieder.

Gänzlich verbergen ließ sich diese Illusion eines netten Dörfchens ebenfalls nicht: „Es gab Spielplätze, aber trotzdem war das Gelände mit Stacheldraht umzäunt. Es gab auch kleine Häuschen, die von den ersten Flüchtlingen im Lager gebaut worden sind, und trotzdem gab es später große Baracken, in denen 375 Menschen gleichzeitig gehaust haben. Es war eisig kalt –“ aber den Gerüchten von der Wahrheit über Westerbork schenkten nur wenige Glauben. „Sie wollten es nicht wahrhaben. Sie fragten sich: ‚Warum werden wir hier so behandelt, nur um dann in den Tod geschickt zu werden?‘“, beschreibt Weyl. „Man muss bedenken: Bei jedem anderen Krieg wird nicht mit der Gewalt gewartet. In diesem Krieg und mit dem Bau der Lager wurde das Töten zwei Jahre lang vorbereitet.“

Der Verlauf des Bösen

Eva Weyl wurde 1935 als Kind deutscher Juden in Arnheim geboren. Ihre Eltern flüchteten bereits 1934 aus Deutschland, damals ansässig in Kleve. „Meine Eltern merkten früh, dass sich etwas Böses anbahnt“, erzählt die Zeitzeugin. „Juden wurden enteignet, es gab Gesetze sich nicht mehr mit ihnen anzufreunden oder Beziehungen einzugehen. Zuerst wollte Hitler die Juden also nur rausmobben.“ Auch das „Kaufhaus Weyl“ in Kleve, das Evas Vater gehört hatte, wurde zwangsverkauft. „Die Menschen sind geflüchtet, so lange sie noch konnten. Trotzdem hatte man bis 1938 noch Hoffnung. Bis zur Reichspogromnacht. Das war die Nacht, in der Tausende Juden erstmalig körperlich angegriffen und verhaftet wurden. Zum Mobbing kam Tod und Gewalt. Das ist die Definition von Holocaust.“

1939 Begann dann Hitlers Vernichtungskrieg mit dem Einmarsch in Polen. „Bevor es die Lager gab, haben sie angefangen, die Menschen einfach aus ihren Häusern zu treiben und zu erschießen. So starben die ersten zwei Millionen.“ Evas nächster Anhaltspunkt: Die Wannseekonferenz 1942. Hier besprachen 15 hochrangige Offiziere der nationalsozialistischen Regierung und Waffen-SS, die organisierte Deportation von Juden in ganz Europa. „An diesem Tag, während eines Mittagessens und als wäre es nichts, wurden 11 Millionen Juden zum Tode verurteilt“, kommentiert Weyl.

1945 wurde das Lager Westerbork von kanadischen Alliierten befreit. „Sie schenkten uns Schokolade, Kaugummis und Zigaretten“, erinnert sich Weyl lächelnd. Dass sie es bis zu diesem Punkt geschafft habe sei mit viel Glück verbunden gewesen: „Mein Vater kannte jemanden, der in der Verwaltung gearbeitet hat. Er hat die Karte mit unserem Namen heimlich zurückgelegt, nachdem er uns gezogen hatte.“ Doch Ende Mai 1944, sollte die Familie Weyl eigentlich doch die Deportation einholen – wenn ein Vorfall nicht dazwischen gekommen wäre. „Am Abend vor unserem Abtransport beschossen Flugzeuge der Alliierten unser Lager. Ein großer Schornstein auf dem Gelände wurde dabei zerstört und sorgte für viel Chaos. Zwei Menschen starben in der Nacht, aber Züge konnten nicht mehr fahren und die Liste mit den tausend Namen wurde zerrissen.“

Dafür kämpft Eva Weyl

Heute lebt Eva Weyl mit ihren 89 Jahren in Amsterdam. Ihre Vorträge haben bis jetzt nach eigenen Schätzungen, etwa 150.000 Jugendliche erreicht. „Es ist meine Lebensaufgabe meine Geschichte zu erzählen, und ich werde noch viele Jahre weiter machen“, lacht sie. Dabei plädiert sie besonders auf die Kostbarkeit von Freiheit: „Wir sind heute frei und wir sind alle Menschen. Äußerlich unterschiedlich aber innen schlägt dasselbe Herz. Man merkt erst, was Freiheit bedeutet, wenn man sie nicht mehr hat. Deshalb denkt daran: Seid Mensch.“ Jacqueline Kurschatke

Eva Weyl (Mitte) teilte an der Marienschule Xanten ihre traumatische Überlebensgeschichte. V.l: Lehrer Michael Rathmann, Direktor Michael Lemkens, Schülerin Alicia und Lehrerin Christiane Lamers.Foto: J.Kurschatke

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